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Wolfgang-Andreas Schultz

Sturmnacht

Oper in zwei Akten nach einem Libretto von Hanns-Josef Ortheil

Diese moderne, etwa in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts spielende Version des klassischen „Hero-und-Leander“-Stoffes ist im Kern ein Stück über den Umgang mit verdrängter Vergangenheit. Die einzigartige Landschaftsformation an der Schleswig-Holsteinischen Nordseeküste mit dem Wattenmeer, das man bei Ebbe zu Fuß überqueren kann, und den Halligen, Inseln, die bei Flut unter Wasser stehen können und deren Bewohner auf Hügeln, den sog. Warften leben, legt eine Übertragung der klassischen Geschichte derart nahe, daß aus der jungen Priesterin Hero die Pfarrerstochter Else wird, der einsame Tempelbezirk wird zum Pfarrhaus auf der Kirchwarft einer Hallig, der Priester, der Hero bewacht, entspricht dem Vater, der seine Tochter an sich bindet, weil er glaubt, an ihr wieder gutmachen zu können, was er an seiner Frau, die vor einigen Jahren Selbstmord beging, versäumt hat. Die tabuisierte, verdrängte Vergangenheit ist Grundlage des Konflikts zwischen Vater und Tochter, der in dem Moment offen ausbricht, wo Else sich in Christian, einen Malergesellen aus der Hafenstadt auf dem Festland verliebt, der auf der Insel arbeitet und dem Leander entspricht.

In dieser Oper wird an entscheidenden Punkten eine „Innenbühne“ herangezogen, das Sterbezimmer der Mutter darstellend, die die verdrängte Vergangenheit sichtbar macht. So kommt es immer wieder zu Überlagerungen von Vergangenheit und Gegenwart, bis schließlich am Ende beide Räume eins werden, wenn in der Identifikation von Else mit ihrer Mutter die Vergangenheit in die Gegenwart durchbricht – auch für den Vater, der in Else jetzt seine Frau sterben sieht.

Personen:

Der Pastor (Bariton); Else, seine Tochter (Sopran); Elses Mutter (Mezzosopran); Christian, ein Malergeselle (Tenor); Nachbar/Meister (Baß); Nachbarin/ein junges Mädchen (Sopran); jüngerer Fischer/Christians Freund (Tenor); älterer Fischer/ein Seemann (Bariton); eine Hure (Mezzosopran) – die vorgeschlagenen Doppelbesetzungen können, müssen aber nicht benutzt werden. Kein Chor.

Orchester:

3.3.3.3– 4.3.3.0 – Hrf.Cemb – Pk.3Perc – Streicher – Bühnenmusik: Org.Klav

Dauer:

etwa 2 Std., 15 Min. ohne die Pause nach dem 1. Akt

Verlag:

Astoria/Schott

 

Entstanden 1980 – 82, Uraufführung 21.6.1987 in Nürnberg

Die Handlung

Erster Akt, erste Szene: Die Bewohner der Hallig bereiten für den nächsten Tag ein Tauffest vor. Christian ist vom Festland gekommen und sucht das Pfarrhaus, um dort zu arbeiten. Während der Arbeit kommt er mit Else ins Gespräch, und als Christian die Mutter erwähnt, erzählt Else zum ersten Mal überhaupt, wie sie im Sterbezimmer die tote Mutter und den hilflosen Vater erlebt hat – eine Szene, die als Innenbühne sichtbar wird. Else hat jetzt stark den Wunsch, ihr Verhältnis zum Vater zu klären. Sie überredet ihn, Christian auch in der Kirche arbeiten zu lassen. Der Vater bleibt sinnend zurück – Else erinnert ihn, so wie sie im Hingrund ein Lied singt, an seine verstorbene Frau.

In der zweiten Szene finden wir Christian und seinen Freund bei Außenarbeiten im Hafenviertel. Der Freund drängt Christian, von der Hallig zu erzählen, und stellt dagegen seine eigene lockere und pragmatische Art, mit der Liebe umzugehen, und bezieht dabei einen angetrunkenen Seemann und eine Hure ins Gespräch mit ein, und zeigt Christian, wie man ein vorbeikommendes Mädchen um den Finger wickelt. Als dieser vom Meister erfährt, daß er auch morgen wieder auf der Hallig arbeiten kann, will er sich die Leichtigkeit seines Freundes zum Vorbild nehmen.

Dritte Szene: Als Christian wieder auf die Insel kommt, wird gerade die Taufe gefeiert. Beim anschließenden Fest und den Tänzen beobachtet der Pastor argwöhnisch, welch enge Beziehung sich in so kurzer Zeit zwischen Else und Christian entwickelt hat. Für Else ist Christian das Glück, das lebendige Heute im Gegensatz zur stillen Verbitterung, die ihr bisheriges Leben prägte. Sie arrangiert ein heimliches Treffen mit Christian, bei dem die beiden zueinander finden. Während sie sich ihre Liebe gestehen, wird die gleiche Situation aus der Jugend ihrer Eltern auf der Innenbühne gezeigt, ein Quartett aus Gegenwart und Vergangenheit. Else und Christian verabreden sich für die kommende Nacht: er soll bei Ebbe über das Watt laufen, sie will ein Licht ins Fenster stellen, damit er sich nicht verirrt. Der Pastor sucht nach Else und stellt sie zur Rede – sie aber weicht aus. Die Fischer befüchten Sturm in der Nacht.

Zweiter Akt, erste Szene: Else wartet in ihrem Zimmer auf Christian. Sie erinnert sich an ihre Mutter, die ebenso wie sie auf der Hallig einsam gewesen war und unter der Eifersucht ihres Mannes gelitten hat (Terzett Else und auf der Innenbühne ihre Eltern). Der Vater sucht Else noch einmal auf, es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung: sie wirft ihrem Vater vor, seine Frau umgebracht zu haben durch seine Lieblosigkeit. Wieder allein, bemerkt Else den aufkommenden Sturm, sie sorgt sich um Christian. In Gedanken an ihre Mutter (auf der Innenbühne Tagebuch schreibend) schläft sie ein. Bei einem Rundgang um das Haus sieht der Vater, daß Elses Fenster offen steht und noch ein Licht brennt. Der Nachbar schürt seine Befürchtungen, es könnte sich etwas zwischen Else und Christian anspinnen. Der Vater steigt, da Else abgeschlossen hat, von außen durch das Fenster ein; beim Anblick der schlafenden Tochter werden seine Sehnsüchte und Träume wach, die er seiner Frau nie hat gestehen können. In die Realität zurückgekehrt, erinnert er sich an seine eigentliche Absicht und löscht das Licht in Elses Zimmer.

Zweite Szene: Zwei Fischer finden am Ufer den ertrunkenen Christian und laufen zum Pfarrhaus. Else begreift sofort, daß nur ihr Vater das Licht gelöscht haben kann. Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung: sie zwingt den Vater zum Geständnis, daß er sehr wohl ahnte, für wen das Licht bestimmt war und daß er ihren Geliebten ermordet hat – gemordet, wie schon einmal. Sie geht ins Haus und läßt den Vater zurück, für den sich jetzt Else und seine Frau, Gegenwart und Vergangenheit zu verwirren beginnen.

Dritte Szene, wieder in Elses Zimmer: Else versinkt in Erinnerungen an ihre unglückliche Mutter. Wie damals als kleines Mädchen hört sie sie die Ballade von den Königskindern singen (Innenbühne). Else übernimmt die letzte Strophe „Sie schwang um sich ihren Mantel und sprang wohl in die See“, sie zieht das Kleid an, das ihre Mutter beim Sterben trug, löst Tabletten in einem Glas auf und trinkt. Der Vater findet Else. Ihr Zimmer und das Sterbezimmer der Mutter, Haupt- und Innenbühne werden jetzt zu einem Raum, er sieht in Else jetzt auch seine Frau sterben und bricht mit der Erkenntnis „Ich habe nie geliebt“ zusammen.

Die Musik

Diese Oper stellt den Versuch dar, von den Erfahrungen der Atonalität ausgehend das ganze Spektrum der Ausdruckmöglichkeiten auch der tonalen romantischen Tradition wieder einzubeziehen, allerdings unter neuen satztechnischen Voraussetzungen. Es reicht von gleichsam volksliedhaften Bildungen wie etwa das Königskinderlied, dessen neu erfundene Melodie die Motive liefert, die den ganzen zweiten Akt durchziehen und sich schließlich zum Lied verdichten, über Anklänge an Popmusik und Rock'n Roll bei Christians Freund, über eine romantische Liebesszene und schmerzlich-atonalen Erinnerungen an den Tod der Mutter bis zu bitonalen Strukturen für die verkrampfte gespaltene Innenwelt des Vaters, der aber in Erinnerungen an früher auch gelöste, quasi diatonische Klänge kennt. Die reichen Motivbeziehungen der symphonischen Textur erlauben der Musik eine tief gehende psychologische Deutung der Personen.