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Wolfgang-Andreas Schultz

Claude Lorrain: Die Verstoßung der Hagar (1668)

Klavierquartett

„Landschaft mit der Verstoßung der Hagar“ – nach einem Bild von Claude Lorrain

„Und gedenke im Buch des Ismael!“ (Koran, Sure 19,54)

In der Bibel findet sich die Geschichte von Abraham und seiner ägyptischen Dienerin Hagar. Abrahams Frau, Sara, konnte zunächst keine Kinder bekommen, und so gebar Hagar ihm den Sohn Ismael. Später bekam auch Sara, in hohem Alter, noch einen Sohn, Isaak. Das führte zu Konflikten, und so wurde Hagar mit ihrem Kind von Abraham verstoßen und in die Wüste geschickt. Aber kurz bevor Ismael verdurstete, erschien ein Engel und zeigte Hagar einen Brunnen.

In der Bibel wird deutlich, daß auf beiden Söhnen Abrahams gleichermaßen der Segen Gottes ruht. Isaak wurde zum Stammvater der jüdischen, und Ismael zu dem der arabischen Stämme. So kommt es, daß Ismael mehrfach im Koran Erwähnung findet.

Von Claude Lorrain gibt es sogar zwei Bilder zu dieser Geschichte: „Die Verstoßung der Hagar“ und „Hagar und Ismael in der Wüste“, beide in München (Alte Pinakothek). Wie immer bei Lorrain, sind die Szenen eingewoben in ein Landschaftsgemälde. Dem folgt die Komposition: Umrahmt von Klanglandschaften werden drei Szenen dargestellt, zunächst die von Lorrain nicht gemalte Begegnung von Abraham und Hagar, dann die Verstoßung und die Szene in der Wüste mit der Erscheinung des Engels. Danach folgt „Ismaels Gesang“, eine liedhafte Melodie, in die nach und nach die Erinnerungen an die Verstoßung und an die Eltern eingefügt werden. Dabei findet sich in den „dramatischen“ Szenen folgende Rollenverteilung: Ismael (Violine), Hagar (Viola) und Abraham (Violoncello).

Die Gliederung im Einzelnen:

 Landschaft im Morgenlicht (T. 1)
 Der Garten der Liebe (T. 15)
 Abraham und Hagar (T. 31)
 Landschaft im Morgenlicht (T. 58)
 Der Garten der Schmerzen (T. 63)
 Ismael („arabischer Stil“, T. 75)
 Abraham und Hagar, Hagars Verstoßung (T. 81)
 Ismael („arabischer“ Stil, T. 102)
 Die Wüste (T. 109)
 Ismaels Todesangst und Hagars Verzweiflung (T. 126)
 Die Erscheinung des Engels (T. 144)
 Ismaels Gesang („arabischer“ Stil, T. 155)
 Landschaft im Morgenlicht (T. 198)

Diese Geschichte erlaubt es, Anklänge an arabische Musik einzufügen. Das geschieht durch die Verwendung von Skalen, welche die für die arabische Musik typischen Dreivierteltonschritte enthalten (etwa: e – halb erhöhtes f – g – a – h – halb erhöhtes c – d – e ), durch Heterophonie (zwei Instrumente spielen im Kern dieselbe Melodie, aber unterschiedlich verziert) und durch bestimmte rhythmische Zyklen, unregelmäßige Taktarten. Die klassische Besetzung als Klavierquartett (Violine, Viola, Violoncello, Klavier) macht eine gewisse Verwandlung oder Stilisierung der arabischen Musik notwendig, erlaubt dadurch aber andererseits eine Verbindung mit der europäischen Tradition.

Komponiert 2011/12, also zur Zeit des „Arabischen Frühlings“