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Wolfgang-Andreas Schultz

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Divino Orfeo - Analyse-Wegweiser

Die Stimme der Orpheus (Flöte, Viola, Harfe) benutzt ausschließlich Skalen auf dem Ton d, wobei aber aus deren Tonmaterial auch Nebenzentren abgeleitet werden können, was einigen dieser Skalen eine interne Polyzentrik verleiht. Die jeweilige Ausgangs-Skala enthält meist festgelegte melodische Elemente, den Spielfiguren der indischen Ragas vergleichbar. Oft wird eine Art Heterophonie benutzt, eine auf die Instrumente verteilte, aufgefächerte Einstimmigkeit. Harmonien werden aus den Tönen der Skala abgeleitet und erhalten ihren Sinn durch Bezug auf die Skala.

Exposition

In den leeren Raum tritt der erste Raga (d-e-f/fis-gis-a-b-cis-d), als einziger achttönig und neutral gegenüber Dur und Moll, da er die große und kleine Terz beide enthält, gleichsam ein neutraler Ur-Raga. Erster Schöpfungstag T. 36: Das Chaos, ein Cluster, aus den Dreiklängen Es-dur/c-moll und E-dur/cis-moll gebildet, den Tonalitäten der geschaffenen Welt. Durch den Cluster scheinen als Andeutungen Motive der weiteren Schöpfungsepisoden hindurch, über ihm liegt ein D-dur/moll-Akkord von ersten Rage hinüberklingend.

Zweiter Raga (d-es-f-gis-a-b-cis-d, T. 58) und zweiter Schöpfungstag T.78: Licht und Finsternis. Der D-dur/moll-Akkord wird in den Fis-dur-Akkord überführt, in der tiefen Lage entwickelt sich über den Klängen G-As-C-Des ( entsprechend den Quinten über c und cis) bzw. B-H-Es-E ( entsprechend den Quinten über es und e) eine Vierteltöne verwendende nahezu konturenlose Schattenwelt.

Dritter Raga (d-es-fis-gis-a-b-cis-d, T. 100) und dritter Schöpfungstag T. 122: Land (Thema T. 127) und Wasser (Thema T. 132) – pentatonische Gestalten auf Es und E, gelegentlich schon bitonal übereinander gelegt.

Vierter Raga (d-es-f-gis-a-his-cis-d, T. 140) und vierter Schöpfungstag T. 154: Die Pflanzenwelt, Thema der Bäume T. 155 in tiefer Lage und Thema der Blüten T. 163 in der Flöte. Das Tonmaterial ist diatonisch, zuerst c-moll und Es-dur, dann cis-moll und E-dur.

Fünfter Raga (d-es-fis-gis-a-his-cis-d, T. 171) und fünfter Schöpfungstag T. 201: Die Welt der Tiere: Thema eines großen, wilden Tiers T. 201, eines kleinen, beweglichen T. 204, und das der Schlange T. 216 in den Baßinstrumenten. Die Tonalitäten Es bzw. c und E bzw. cis werden bitonal übereinander gelegt oder in Linien, die grundsätzlich noch diatonisch sind, ineinander verschränkt.

Sechster Raga (d-e-f-gis-a-his-cis-d, T. 233) und sechster Schöpfungstag T. 270: Eurydike, die Allegorie der menschlichen Natur, verkörpert durch die Solo-Violine. Die Melodik ist chromatisch, in der Harmonik durchdringen sich die Tonalitäten Es,c,E,cis derart, daß von c-moll und cis-moll nur die Tonika und der Subdominant-Quintsextakkord, und von Es-dur und E-dur nur die Tonika und der Dominantseptakkord verwendet werden, und zwar so, daß sich die tonalen Zentren dauernd durchdringen, oft mit enharmonischen Verwechslungen, in einer Art polyzentrischer Tonalität.

Der siebte Raga und der siebten Schöpfungstag als Ruhetag sind identisch (d-e-fis-gis-a-his-cis-d, T. 293). Die Skala läßt sich lesen als Folge der Teiltöne 1,9,5,11,3,7,15 über d und erlaubt daher allerdings temperiert korrigierte spektrale Klänge.

Durchführung

In T. 311 fällt der Blick wieder in die Schattenwelt, dort entwickelt sich ein neues Thema im 1. Cello ab T. 328. Im Paradies bzw. in Arkadien begegnen sich Orpheus und Eurydike (ab T. 333, die Solistengruppe im Dialog mit der Solo-Violine), und es begegnen sich die Themen der Schöpfungstage mit den Ragas der Orpheus-Stimme, dazu werden gelegentlich Episoden aus dem 1. Satz des Streichquartetts ("Arkadien oder das Fest der Liebenden") eingeblendet, um den Eindruck von zwei parallel verlaufenden Erzählungen entstehen zu lassen. Immer wieder tritt das Schlangen-Thema auf, bis es ab T. 500 zu Eurydikes Tod bzw. zum Sündenfall führt.

T. 527 beginnt die Passion bzw. der große Klagegesang des Orpheus, auch hier unter Einbeziehung der Themen der Schöpfungstage. Das Schlangenthema, triumphierend in bitonaler Kadenz (E-dur und Es-dur, T. 609), bildet als Chiffre der Kreuzigung den Höhepunkt. Es öffnet sich wieder der weite leere Raum ( T.614), dann beginnt der Abstieg in die Unterwelt bzw. die Höllenfahrt (ab T. 621).

Coda

Die Stimme der Orpheus nähert sich jetzt der Schattenwelt an, indem im dritten Raga die beiden übermäßigen Sekunden durch Dreivierteltonschritte ausgefüllt werden, was einen zusätzlichen Raga ermöglicht über "es": es-halberniedrigtes f-ges-as-b-halberniedrigtes c-des-es, in bitonales Spannung zum eigentlichen Grundton d. In T. 635 ist die Schattenwelt erreicht, eingefügt werden Abschnitte aus dem zweiten Satz ("Hades") des Streichquartetts. Als Tiefpunkt (oder Todespunkt) wirkt ein gleichsam rituell dreimal gespielter Abschnitt der Orpheus-Stimme (ab T. 663), der den Wiederaufstieg ermöglicht (T. 676) – hier klingt schon in der Harfe eine Tonfolge an, die durch das Obertonspektrum aufsteigen wird. T. 682 Reminiszenz an die Paradies-Szene: die Wiederbegegnung mit Eurydike, aber das Quartett erzählt vom erneuten Verschwinden Eurydikes im Hades (T. 685). Der Schlußteil verschlüsselt ineinander Anklänge an Eurydikes Erwachen ( T. 694, wie am sechsten Schöpfungstag), die Öde des Hades (Quartett T. 699), den Aufstieg des Orpheus durch die Obertonskala (T. 703), bis sich schließlich die Schattenwelt zum Obertonspektrum auf E hin ausrichtet (ab T. 707). Der zarte Schlußakkord ist der Fis-dur-Akkord des Lichts vom zweiten Schöpfungstag.