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Wolfgang-Andreas Schultz

Ausführlicher Werkkommentar: Deutsch / English

Erste Symphonie: Die Stimmen von Chartres

Die Kathedrale in Chartres ist eines der wichtigsten Zentren für die Entwicklung der abendländischen Kultur. In ihr vereinen sich alle Traditionsströme, die das Abendland geformt haben. So stellt denn auch ein musikalisches Portrait dieser Kathedrale den Anspruch, das Ineinander dieser verschiedenen Traditionen hörend erfahrbar, ihre Gleichzeitigkeit erlebbar zu machen, - eine Chance, die Gattung der Symphonie neu lebendig werden zu lassen.

Der erste Satz "Landschaft mit Kathedrale - Die Stimmen" nähert sich von außen der Kathedrale und läßt neben den Motiven der Landschaft zuerst die Themen all dieser Traditionsströme erklingen, die sich hier vereinigen:

All diese Stimmen werden in Durchführungsepisoden miteinander verflochten und ergänzt durch die zwei Themen der Heiligen, denen die Kathedrale geweiht ist: Das Posaunenthema Johannes der Täufers, des Rufers in der Wüste, und die "Rosette" der Marien-Vision: ein renaissancehafter Bläsersatz als innerer Kern, umspielt von zahlreichen Streicherstimmen.

Der zweite Satz "Innenraum - Der Weg durch zwei Zeiten" wendet sich nach innen: nicht nur, daß sich die Musik dem Innenraum der Katherdale zuwendet, sondern auch der inneren Welt des Menschen. Die Idee der menschlichen Höherentwicklung, wie sie in der Schule von Chartres diskutiert wurde, verdichtet sich im Mysterium von Tod und Auferstehung: Der Mensch stirbt seiner alten Gestalt und wird in neuer wiedergeboren. Rogier van der Weyden hat in seinem Sakramentsaltar (Antwerpen) eine ausdrucksvolle Kreuzigungsszene in einer gotischen Kathedrale gemalt: das menschlich-subjektive Erleben im überpersönlichen, gleichsam objektiven Raum, - dies Bild wurde zum Archetypus für den zweiten Satz.

Der musikalische Statthalter des Kreuzes ist der Hymnus "Crux fidelis"; gleich in der Einleitung wird er eingeführt. Zunächst aber folgen das "menschliche Thema" und das dämonische "Gegenthema seines Schattens", denn jedes innere Wachstum erfordert die Begegnung mit den eigenen dunklen Seiten. Ein kurzes drittes Thema rundet den ersten Teil ab, dann beginnt der "Weg durch zwei Zeiten": Der gleichsam objektive Raum wird repräsentiert durch Variationen des Hymnus, die immer im gleichen langsamen Tempo bleiben. Parallel dazu ereignet sich eine subjektiv-symphonische Entwicklung, die in ihren Tempi und in ihrer syntaktischen Gliederung ganz unabhängig vom Hymnus verläuft. Die zwei Zeiten: das sind die gleichsam rituelle langsame Zeit des Hymnus und die bewegte, menschliche lebendige Zeit der symphonischen Entwicklung.

In der rituellen Schicht greift die Musik über das Abendland hinaus: die erste Variation des Hymnus in hoher Lage benutzt fernöstliche (koreanische) Ornamentierungstechniken, die zweite, in tiefer Lage, läßt Klangwelten des tibetischen Buddhismus anklingen, die dritte greift auf byzantinische Musik zurück, ähnlich wie das zweite Thema des ersten Satzes. Ganz am Ende klingt japanische Kultmusik an: die Vision des Paradieses als Zen-Garten ... All dies ist in der Kathedrale bereits vorgeprägt: In der Krypta sind ein Pagodendach gemalt und Menschen mit Fingerhaltungen, die wir aus Indien als "Mudras" kennen. Dank dieses Universalismus könnte die Kathedrale helfen, eine im Abendland gegründete Spiritualität neu lebendig werden zu lassen.